Von Zauberern, Tierärzten und Superhelden
Der ersten Konfrontation mit dem späteren Berufsleben stelle ich mich in der Grundschule. Meine Deutschlehrerin möchte wissen, was wir später einmal werden wollen. Von Zauberer, über Tierärztin bis hin zu Superheld ist im Klassenverband so ziemlich alles dabei. Die Gedankenspiele dazu sind bunt und unentschlossen. Und gefühlt ändert sich das bis zu dem Tag, an dem ich mein Abiturzeugnis in der Hand halte, wenig bis gar nicht. Wer weiß in meinem zarten Alter schon, welcher Beruf es bis zum Lebensende werden soll? Klar für mich ist: Ich muss studieren. Wozu hab ich sonst mein Abitur gemacht? Was – das ist mir allerdings völlig schleierhaft. Der Plan: Ein Jahr jobben im Ausland soll Klarheit bringen. Tut es aber nicht. Trotzdem trete ich zwölf Monate später ein Studium an. Nach dem dritten Semester breche ich ab. Viel zu spät, denn dass sowohl die Art des Studiums, wie auch der Inhalt nichts für mich sind, merke ich schon ganz zu Beginn. Was mich lange von diesem Schritt, der mir viel vertane Zeit ersparen würde, abhält, ist der vermeintliche gesellschaftliche Druck. Studienabbruch kommt in meinem Kopf dem gesellschaftlichen Ausstoß gleich. Dass das absoluter Nonsens ist, hätte ich gerne eher gewusst. Wildfried Schumann leitet den psychologischen Beratungsservice von Universität und Studentenwerk in Oldenburg und hat jeden Tag mit Studierenden zu tun, die mit Sorgen und Nöten kämpfen. Ein Drittel der Anfragen bezieht sich dabei auf das Studium. Zur gesellschaftlichen Aktzeptanz in Sachen Studienabbruch äußert er sich optimistisch: »Die Zahl derer, die das Studium begonnen haben, aber nicht zu Ende bringen, bewegt sich seit sehr langer Zeit auf einem relativ stabilen Niveau von etwa 25 Prozent. Man kann daraus ablesen, dass das kein exotisches Phänomen ist. Es ist extrem verbreitet, dass Studierende ein Studienfach wählen, das sich nicht als das für sie richtige herausstellt. Hier muss man sich vor Augen führen, dass sowohl eine Studienentscheidung als auch Entscheidungen im späteren Berufsleben immer Risikoentscheidungen sind. Ob es am Ende passt oder nicht – das erfährt nur, wer es über einen längeren Zeitraum ausprobiert. Insofern sollte man die Problematik ein Stück weit entdramatisieren und realisieren, dass eine gewisse Wahrscheinlichkeit, sich mit einem Stu-
dienabbruch konfrontiert zu sehen, immer da ist.«
Wenn du nichts änderst, ändert sich nichts
Um die Erkenntnis reicher, dass Umwege im Leben selten Irrwege sind, widme ich mich nach dem Studienausstieg einem handwerklichen Beruf und starte wenige Jahre später einen zweiten Studienanlauf. Dieses Mal an einer Fachhochschule, weil praxisnah. Und dazu mit einem Studiengang, der mir wirklich liegt. Mit Erfolg. Dass andere Wege auch schöne Steine haben, zeigt das Beispiel von Ryan. Er ist 28 Jahre alt und erkennt nach vier Semestern Jurastudium, dass ihm der Bezug zu diesem Studienfach schlichtweg fehlt. Ein erster Perspektivwechsel bewegt ihn zur Aufnahme des Studiums »Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie«. Aber auch hier wird deutlich: Das ist es nicht: »Ich habe das Studium erst einmal auf Eis gelegt und mich für eine Ausbildung als Kaufmann für Versicherung und Finanzen entschieden. Hier sehe ich für mich persönlich gute Möglichkeiten, auch in Bezug auf das Einkommen. Wer als Archäologe arbeitet, muss in der Regel promovieren. Das bedeutet: Nach dem Bachelor folgt der Master und dann noch eine Doktorarbeit. Danach: Zeitverträge an verschiedenen Orten. Das ist nichts für mich,« so Ryan. Zu Ende bringen möchte er das Studium neben der Ausbildung trotzdem: »Die Bachelorarbeit habe ich fast abgeschlossen – als Archäologe werde ich jedoch nicht arbeiten. Nach dem IHK-Abschluss möchte ich mich als Kaufmann für Versicherungen und Finanzen selbstständig machen. Aber vielleicht werde ich mal einen Neubau versichern, der auf archäologisch wertvollem Grund gebaut werden soll – das Themenfeld in unserer Branche ist vielfältig.«
No risk, no story.
Eine meiner größten Ängste damals war, beruflich nie wieder Fuß fassen zu können. Mein Horrorszenario: Unendliche Rechtfertigungen – etwa beim Bewerbungsgespräch. Aber tatsächlich sind die Unternehmen, mit denen ich darüber spreche, von diesem Schritt eher angetan. Eine Argumentation, die in diesem Zusammenhang oft fällt ist, dass Studienaussteiger nach einem Perspektivwechsel in der Regel deutlich fokussierter in Bezug auf die Berufswahl sind. Auch Verena School, Leiterin im Bereich Learning und Training beim Versicherungsunternehmen ERGO, ist diesbezüglich offen: »Wir freuen uns seit jeher auf Bewerbungen von Studienaussteigerinnen und Studienaussteigern für alle unsere Ausbildungsgänge. Dass jemand sein Studium nicht abgeschlossen hat, sagt nichts über den Menschen aus, der sich bei uns bewirbt und der bei uns seine berufliche Heimat findet und Karriere machen möchte.« Die Entscheidung, vorzeitig aus einem Studium auszusteigen, ist also alles andere als zerstörerisch. Trotzdem sollte der Schritt nicht aus einer Laune heraus gegangen werden. »Man sollte auf jeden Fall die eigenen Gründe noch einmal reflektieren, die hinter dem Abbruchgedanken stecken. Ein Beweggrund kann sein, dass man einfach so gar keine Verbindung zu Studienfach XY aufbauen kann und somit Freude, Neugierde und der Wille, sich ins Studium zu knien, auf der Strecke bleiben. Wenn die Erkenntnis reift, die Anforderungen absolut nicht erfüllen zu können und diesbezüglich jeder Schritt Überwindung kostet, dann sollte man sich eingestehen, dass es einfach nicht die richtige Entscheidung war und möglichst schnell die Konsequenzen daraus ziehen. Anders liegt der Fall natürlich, wenn man grundlegend Lust auf das Studium und das darauffolgende Berufsleben hat, aber an den eigenen Studienleistungen (ver-)zweifelt, obwohl man sich im Fach selbst Zuhause fühlt. Hier würde ich von einem Abbruch abraten. Diese Defizite können durch gezielte Nachhilfe und bessere Organisation oft ausgeglichen werden«, so Schumann.
Du bist aber mutig!
Vielleicht wird in diesem Zusammenhang die Frage laut, warum Unternehmen sich gerade für Perspektivwechsler entscheiden sollten. Ein Studienausstieg zeugt doch von absoluter Unentschlossenheit, oder? Denkste! Ich persönlich habe immer wieder die gleiche Rückmeldung bekommen. Und die deckt sich so ziemlich mit folgender Aussage: »Sie sind selbstbewusst und zeigen, dass es kein Scheitern mit Stigma ist. Auch wenn man das Studium nicht abschließt, hat man trotzdem wertvolles Wissen, das man einbringen kann. Gerade jetzt ist die Arbeitswelt so dynamisch wie lange nicht und durch die Digitalisierung ergeben sich viele Chancen. Ein nicht abgeschlossenes Studium ist auf dem langen Berufsweg nur eine kleine Episode. Eine Ausbildung ist eine gute Grundlage, auf der man weiter aufbauen kann«, so Ausbildungsleiterin School. Ich für meinen Teil habe auf meinen Umwegen mehr von der (Arbeits-)Welt, allem voran aber mehr von mir selbst gesehen. Meine Erfahrung zeigt: Man kommt nicht vom Ziel ab, nur weil man den Weg dahin flexibler gestaltet.