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Call me student

Dieses Mal im Interview: Magdalena Vock von der Förderinitiative Nightlines Deutschland e.V. Der Verein unterstützt Zuhör-Hotlines in mehreren Uni-Städten, bei denen Studierende in den späten Abendstunden ihre Sorgen lassen können. Ein Gespräch über die Arbeit einer sozialen Initiative und studentisches Engagement.

Liebe Magdalena, was ist studentisches Engagement?

In diesem Zusammenhang würden wir Engagement als Handeln beschreiben, das intrinsisch motiviert ist, freiwillig geschieht, und als nicht selbstverständlich gewertet wird. Im Fall der Nightlines betreiben Studierende ehrenamtlich in ihrer Freizeit Zuhörtelefone von Studierenden für Studierende und tun damit etwas für ihre Peers. Wie genau das Engagement aussieht, kann ganz unterschiedlich sein. Die meisten engagieren sich natürlich im eigentlichen Telefondienst, das heißt sie nehmen Anrufe (oder in einigen Nightlines auch Chat-Nachrichten) entgegen – es gibt jedoch auch »hinter den Kulissen« viel zu tun, zum Beispiel die Organisation des Dienstplans, Verwaltung der technischen Voraussetzungen oder Öffentlichkeitsarbeit. Auch der Umfang des Engagements variiert stark; natürlich ist es auch abhängig davon, wie viel Zeit jede*r einzelne Studierende neben Studium und anderen Verpflichtungen für die Nightline investieren kann.

Warum sollten sich Studierende neben ihrem Studium sozial engagieren?

Soziales Engagement kann sehr erfüllend sein. Viele erleben durch die Ausübung von Tätigkeiten, die anderen Menschen zugutekommen, Selbstwirksamkeit und Sinnhaftigkeit – in unserer Erfahrung fehlt es vielen Studierenden daran innerhalb ihres Studiums, besonders, wenn ihr Studienalltag hauptsächlich aus dem Besuch von Lehrveranstaltungen und der selbstständigen Vor- und Nachbereitung besteht. Ein soziales Engagement bietet nicht nur die Möglichkeit, für andere da zu sein, sondern auch, andere Engagierte kennen-
zulernen und als Team gemeinsam etwas zu schaffen. Zudem kann es auch eine tolle Möglichkeit sein, sich außerhalb von Nebenjobs und Praktika in neuen Aufgabenbereichen auszuprobieren und praktische Erfahrungen zu sammeln. Ob Veranstaltungsorganisation, Kassenbericht oder Teamleitung – in der Nightline kann man nicht nur kommunikative Kompetenzen erwerben, sondern auch Erfahrungen sammeln, die bei der beruflichen Orientierung helfen.

Wie ist deine Einschätzung? Ist das soziale Engagement heutiger Studierender größer oder kleiner geworden?

Das ist schwer zu beantworten. Wir haben schon festgestellt, dass während der Coronapandemie das Interesse, sich in einer Nightline zu engagieren, angestiegen ist. Zum einen war für die ehrenamtlichen Studierenden die Nightlinetätigkeit eine Möglichkeit, um in Zeiten von Lockdowns und Online-Lehre für andere da zu sein – und natürlich auch selbst mit anderen in Kontakt zu bleiben. Es hing aber sicherlich auch damit zusammen, dass durch die Pandemie die Aufmerksamkeit für das Thema mentale Gesundheit in der Öffentlichkeit stark angestiegen ist – zu recht! Wie wir aus der Praxis wissen, hatten Studierende auch schon vor der Pandemie Sorgen und Gesprächsbedarf; auch das Auftreten psychischer Erkrankungen ist während der Lebensphase, in der sich Studierende befinden, nicht untypisch. Während der Pandemie kamen dann noch große belastende Faktoren hinzu – soziale Isolation, Zukunftsängste, Trauer um Angehörige und mehr. Es gibt jedoch auch immer noch Stigmata und Hemmungen, sich bei Problemen Unterstützung zu suchen oder auch nur offen mit einer anderen Person darüber zu sprechen. Insofern ist es überfällig, dass dieses Thema auch in der öffentlichen Wahrnehmung einen größeren Stellenwert erhält.

Wie sieht die Arbeit der Nightlines aus?

Die Nightlines bieten den Studierenden ihrer Stadt das Angebot, anonym am Telefon beziehungsweise per Chat Anliegen zu besprechen. Nightlines sind niedrigschwellige Anlaufstellen, die einfach und kostenfrei (bis auf gegebenenfalls anfallende Telefongebühren) in den Abend- und Nachtstunden erreichbar sind – also dann, wenn viele Studierende allein zu Hause sind und andere Anlaufstellen geschlossen haben. Eine Besonderheit ist, dass die Studierenden auf beiden Seiten anonym bleiben. Beim ersten Hören klingt es vielleicht kontraintuitiv, aber die Erfahrung zeigt, dass gerade dadurch ein besonders geschützter und vertrauter Rahmen entsteht, in dem belastende Themen besprochen werden können. Die Studierenden, die Gespräche entgegennehmen, befinden sich in der gleichen Lebenssituation wie diejenigen, die anrufen – so finden die Gespräche stets auf Augenhöhe statt. Wichtig ist es uns zu betonen, dass es sich bei dem Angebot nicht um ein professionelles Beratungs- oder Therapieangebot handelt, sondern um ein ehrenamtliches Gesprächsangebot von Studierenden für Studierende, das vorrangig auf Zuhören basiert. Einer unserer Grundsätze ist die Nondirektivität, das heißt, dass keine Ratschläge gegeben werden. Stattdessen erhalten die Anrufenden Raum, um ihr Anliegen zu bearbeiten und werden dabei durch die Nightliner*innen begleitet.

Was sind Themen, die eure Anrufer besonders bewegen?

Das sind sowohl allgemein menschliche Themen wie zum Beispiel Freundschaft, Liebe und Familie, Konflikte, Ängste, Unsicherheiten und Selbstzweifel; sowie Themen, die die spezifische Situation von Studierenden betreffen. Etwa Einsamkeit nach einem Studienortwechsel, Studienzweifel, Prüfungs- oder Versagensängste, Prokrastination, Stress in der WG oder Überlastung durch Studienanforderungen oder andere Verpflichtungen wie Nebenjob oder Pflege von Kindern beziehungsweise Angehörigen. Grundsätzlich gilt, dass man sich mit jedem Anliegen an die Nightline wenden kann. Bei Bedarf kann auch an andere Beratungsstellen verwiesen werden.

Werden eure Mitglieder speziell geschult?

Ja, jede*r Nightliner*in, der oder die Gespräche entgegennehmen möchte, muss zuvor eine Schulung durchlaufen, die gewissen Kriterien entspricht. So werden grundlegende Gesprächstechniken vermittelt und vor allem viel geübt. Auch der Umgang mit herausfordernden Situationen, zum Beispiel im Zusammenhang mit Anrufenden mit Suizidgedanken, ist ein wichtiges Thema. Uns ist wichtig, dass alle Nightliner*innen gut vorbereitet werden und nur dann ans Telefon gehen, wenn sie sich sicher fühlen, damit sie wirklich für die andere Person da sein können, aber auch ihre eigenen Grenzen kennen. Alle Schulungen werden von erfahrenen Nightliner*innen und/oder Expert*innen wie zum Beispiel Psycholog*innen geleitet.

Sind die Gespräche für euch als Zuhörer auch hin und wieder herausfordernd? Wie verarbeitet ihr diese im Nachhinein für euch selbst?

Ja, es kann vorkommen, dass einem ein Thema besonders nahegeht oder ein Gespräch aus anderen Gründen als herausfordernd wahrgenommen wird. Wenn sich der*die Nightliner*in in oder nach dem Gespräch unwohl fühlt oder ihr*ihm das Gespräch nicht aus dem Kopf geht, besteht auf jeden Fall Handlungsbedarf. Jede*r Nightliner*in hat die Möglichkeit, einen solchen Fall anonymisiert im Rahmen einer der regelmäßig stattfindenden Supervisionen mit einer*m geschulten Expert*in zu besprechen. Darüber hinaus gibt es immer die Möglichkeit, direkt nach dem Gespräch mit einer*m anderen Nightliner*in zu sprechen, wenn nötig. Innerhalb der Nightlines gibt es einen starken Zusammenhalt und viele haben zusätzlich noch eigene Unterstützungssysteme, zum Beispiel durch Patenschaften oder Notfallkontakte.

Aus welchen Studienrichtungen setzen sich die Teams von Nightline zusammen?

Tatsächlich aus allen! Thematisch bedingt interessieren sich natürlich viele Studierende aus sozialen Studienrichtungen wie Psychologie oder Soziale Arbeit für ein Engagement in der Nightline, aber es gibt auch Nightlines an Hochschulen, die gar keine solchen Studiengänge anbieten. Wer sich für die Arbeit in einer Nightline interessiert, muss keine spezifischen Vorerfahrungen mitbringen – Interesse an dem Thema und die Bereitschaft, sich in Gesprächsführung und die spezifische Arbeitsweise der Nightlines einzuarbeiten, sind eine gute Voraussetzung für die Mitarbeit.

In meiner Stadt gibt es noch keine Nightline? Kann ich selber einen Verein gründen? Und kann man sich das ganze wie ein Franchise vorstellen?

Wir freuen uns sehr darüber, dass der Gedanke der Nightlines sich mehr und mehr verbreitet und jedes Jahr neue Nightlines entstehen. Um zu prüfen, ob es in der eigenen Stadt schon eine Nightline gibt, schaut man am besten unter www.nightlines.eu/erreichbarkeit nach; dort sind auch alle Dienstzeiten der Nightlines aufgelistet. Studierende, die in einer neuen Stadt eine Nightline gründen möchten, können sich an die Förderinitiative Nightlines Deutschland e.V. wenden – wir geben Hilfestellung zum Aufbau und teilen Best Practices. Es gibt eine gemeinsame Philosophie, die alle Nightlines teilen; dazu gehören unter anderem ein positives Menschenbild, Urteilsfreiheit und eine demokratische Grundordnung. In Bezug auf die Arbeitsweise gibt es ebenso zentrale Gemeinsamkeiten, zum Beispiel die non-direktive Gesprächsführung, Anonymität und Vertraulichkeit. Neue Nightlines müssen diesen Prinzipien zustimmen. Darüber hinaus gibt es aber auch eine Reihe von Unterschieden zwischen den Nightlines, zum Beispiel darin, wie ihr Verein organisiert ist, wie ihre Öffentlichkeitsarbeit oder bestimmte Arbeitsabläufe aussehen. Es handelt sich also um kein Franchise im eigentlichen Sinne; jede Nightline ist unabhängig.

Ring Ring

Die erste Nightline wurde 1970 in Essex gegründet. Mitte der Neunziger kam das Projekt nach Deutschland. Hier wurde in Heidelberg die erste Telefonverbindung dieser Art ins Leben gerufen. Mittlerweile gibt es über 28 Nightlines in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ist deine Stadt dabei? Schau nach auf https://nightlines.eu 


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