Eine blaue Latzhose, ein Pullover mit einem Fußball drauf und Socken mit Auto-Muster. Das ist Jonas. Würde man eine zufällig ausgewählte Person bitten, mit dem Einjährigen zu spielen, würde sie in der bereitgestellten Spielzeugkiste souverän zum Bagger, Ball oder Rennauto greifen. Die Stoffpuppe mit rosa Feen-Kleidchen bliebe geflissentlich links liegen. Was die Testperson nicht weiß: Jonas heißt eigentlich gar nicht Jonas und ist auch kein Junge. Jonas ist Sophie, die in klassischen »Jungenklamotten« steckt. Sogenannte Baby X-Experimente werden in der Wissenschaft immer wieder durchgeführt, und stets fördern sie das gleiche Ergebnis zu Tage: So frei von Klischees und Stereotypen, wie wir uns selbst gerne sehen würden, sind wir gar nicht. Dabei prägen diese geschlechtertypischen Denkmuster nicht nur die Auswahl des Spielzeugs, sondern langfristig auch die Entwicklung von Interessen und somit die spätere Berufswahl der Kinder. Die Auswirkungen der gesellschaftlichen Denkmuster, wie sie unter anderem durch Baby X-Experimente aufgedeckt werden, zeigen sich deutlich in Zahlen und Fakten zum Thema Frauen in der Wissenschaft und insbesondere Frauen im MINT-Bereich.
MINT-Arbeitsmarkt-Report
Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik – kurz MINT, das sind die Bereiche, in denen vor allem in der Vergangenheit, aber auch heute noch ein chronischer Frauenmangel herrscht. 2020 waren laut der Bundesagentur für Arbeit nur 16 Prozent der MINT-Arbeitskräfte in Deutschland weiblich. Während Frauen in den Disziplinen der Mathematik und der Naturwissenschaften heute immerhin schon einen Anteil von knapp 38 Prozent ausmachen, zeigt sich das Ungleichgewicht der Geschlechter im Bereich Mechatronik, Energie- und Elektrotechnik mit 8,7 Prozent oder Bau- und Gebäudetechnik mit 12,7 Prozent weiblicher Beschäftigter besonders deutlich. Gleichzeitig zeichnet sich auf dem MINT-Arbeitsmarkt ab, dass Unternehmen bei der Suche nach Fachkräften zunehmende Schwierigkeiten haben. Die Bundesagentur für Arbeit spricht zwar aktuell nicht von einem generellen Fachkräftemangel, doch in einzelnen Teildisziplinen fehlt es bereits an Arbeitskräften und in anderen Bereichen ist in naher Zukunft mit einem Mangel an Nachwuchs zu rechnen. Die Vakanzzeit einer neu zu besetzenden Stelle – also die Zeit, bis eine ausgeschriebene Stelle neu besetzt wird – liegt mit 151 Tagen nach dem gewünschten Besetzungstermin bei MINT-Berufen höher als die durchschnittliche Vakanzzeit von 131 Tagen für alle offenen Stellen in Deutschland. Aktuell halten sich zwar Arbeitlose und offene Stellen im MINT-Bereich fast die Waage, doch beinahe ein Viertel der MINT-Beschäftigten sind 55 Jahre oder älter und scheiden dementsprechend in absehbarer Zeit aus dem Berufsleben aus. Nachwuchs wird deshalb dringend gesucht.
Neben dem demographischen Wandel werden Nachwuchsfachkräfte in Deutschland auch aus anderen Gründen benötigt: Der langfristige Bedarf an MINT-Personal steigt, da zum einen neue Technologien erforderlich sind, um die Herausforderungen durch den Klimawandel anzugehen und beispielsweise die Dekarbonisierung voranzutreiben. Zum anderen wird durch die fortschreitende Digitalisierung auch die branchenübergreifende Nachfrage nach IT-Spezialist*innen steigen. Dr. Ulrike Struwe, Geschäftsführerin des Kompetenzzentrums Technik-Diversity-Chancengleichheit e.V., erklärt, warum besonders Frauen dem drohenden Mangel entgegenwirken können. »Wir sind in Deutschland als Hochtechnologieland auf Nachwuchskräfte dringend angewiesen. Das Potenzial an Nachwuchskräften ist bei Frauen höher als bei Männern, da sie in den MINT-Bereichen aktuell unterrepräsentiert sind. Männer wählen bereits zu einem hohen Anteil MINT-Studiengänge, sodass deren Anteil nicht mehr groß zu steigern ist. Um wirklich zahlenmäßig etwas bewirken zu können, müssen wir dringend mehr Frauen gewinnen.« Doch nicht nur zahlenmäßig würden Frauen die MINT-Arbeitswelt bereichern. Studien belegen, dass geschlechterübergreifende Teams häufig auf bessere Ideen kommen und produktiver zusammenarbeiten. Durch Frauen in MINT-Berufen wird außerdem gewährleistet, dass bei der Entwicklung von neuen Produkten, Dienstleistungen oder Technologien nicht nur die männliche Perspektive miteinbezogen und somit alles auf den Mann ausgelegt wird. Schließlich sind 50 Prozent der anschließenden Konsument*innen oder Nutzer*innen weiblich. Besonders im Hinblick auf die Digitalisierung ist es essentiell, dass Frauen miteinbezogen werden. »Die Welt wird immer mehr durch Informatik und Digitalisierung geprägt, diese Entwicklung betrifft alle Lebensbereiche«, erklärt Dr. Ursula Köhler, Sprecherin der Fachgruppe Frauen und Informatik. »Umso wichtiger ist es, dass genug Frauen in diesen Bereichen aktiv sind, um die Entwicklungen mitzugestalten und bei der Technik von morgen nicht außen vor gelassen zu werden.« Genau diese Entwicklung befürchten Expert*innen beispielsweise im Bereich der Künstlichen Intelligenz. KI-Systeme lernen aus Daten, die in das Programm eingespeist werden. Repräsentieren die eingespeisten Datensätze nicht die gesellschaftliche Vielfalt, entstehen zunehmend Systeme, die von Männern für Männer entwickelt werden. Die weibliche Sicht wird schlichtweg nicht miteinbezogen, wenn das Entwicklerteam ausschließlich oder überwiegend männlich ist. Doch warum gibt es überhaupt so wenige Frauen, die als Informatikerin, Ingenieurin oder Elektrotechnikerin arbeiten? Fehlt Frauen das Interesse an technischen Fächern? Oder an den Fähigkeiten, die für diese Berufe benötigt werden? Falsch! Die Ursachen für den Frauenmangel führen uns nicht nur zurück in die Hörsäle deutscher Unis und Hochschulen, wo auch heute noch zu wenige Frauen im MINT-Bereich ausgebildet werden, sondern noch deutlich weiter zurück. Zurück in die Schulen, Kindergärten und Kinderzimmer.
Von den über acht Millionen MINT-Arbeitskräften in Deutschland sind 84 Prozent männlich und mehr als 21 Prozent über 55 Jahre alt
Auf Anfang
Werden Mädchen durch die Gesellschaft zu informatikhassenden, chemieverabscheuenden und mathematisch untalentierten jungen Frauen erzogen? Natürlich nicht, doch die frühkindlichen Einflüsse und die Konfrontation mit Vorurteilen und Rollenbildern, die in der Gesellschaft fest etabliert sind, geht nicht spurlos an den Heranwachsenden vorbei. Blau steht für Junge, rosa für Mädchen. Sophie bekommt zu Weihnachten eine Barbiepuppe oder eine Spielküche, Jonas einen kleinen Werkzeugkasten oder ein Lego-Fahrzeug. Kochen ist Mädchensache, das Handwerkliche übernimmt der Junge. Ist ja nur Spielzeug. Sophie wünscht sich auch einen Werkzeugkasten? Klar, dann aber bitte in rosa, und am besten mit Feenstaub verziert. Diese unterschiedlichen Spielsachen mögen im ersten Moment belanglos wirken, jedoch sind sie prägend. Das Anziehen einer Puppe oder das Malen eines Bildes erfordert und fördert ganz andere Fähigkeiten als das Bauen eines Modellflugzeugs. »Es macht einen großen Unterschied, ob ein Mädchen im frühen Alter spielerisch an Technik herangeführt wird oder nicht«, erklärt Hannelore Faulstich-Wieland, emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Hamburg. »Natürlich gelten heute meist nicht mehr so klare Vorschriften wie etwa, dass Jungen nicht weinen oder Mädchen nicht auf Bäume klettern dürfen. Doch subtil spielt es in der Erziehung immer noch eine Rolle, welches Verhalten für ein Mädchen angemessen ist und welches für einen Jungen. In der Spielzeugindustrie werden solche Klischees massiv gefördert.« Oft seien es gesellschaftliche Stereotypen, durch die Eltern bei der Spielzeugauswahl unbewusst beeinflusst werden. Ein rosa Baukasten extra für Mädchen etwa unterstützt nur das gängige Klischee, dass die echte Wissenschaft nichts für Frauen ist. Diese Vorstellungen haben Konsequenzen für das spätere Rollenverständnis eines Kindes.
Bei der Berufs- oder Studiengangwahl haben frühkindliche Prägungen einen nicht zu vernachlässigenden Einfluss. Zudem sind vor allem Eltern wichtige Ansprechpartner*innen bei der Berufsauswahl. Mit ihrem Rat können sie enorm auf die Entscheidungen ihres Kindes einwirken. Natürlich wollen sie dabei nur das Beste für ihre Kinder. Doch Studien belegen, dass Eltern ihren Töchtern bei ähnlichen oder sogar höheren Kompetenzen bereits in der Grundschule weniger mathematische Fähigkeiten zusprechen als ihren Söhnen. In ihrer Verkleidung als Jonas würden Sophies Eltern also eher ihre mathematischen Fähigkeiten erkennen und fördern, als sie es bei Sophie tun. Durch diese oft unbewusst vorherrschenden Geschlechterstereotypen ziehen viele Mädchen es gar nicht in Erwägung, sich in der Schule für Fächer wie Mathe oder Chemie zu interessieren. Dementsprechend wenig trauen sie sich selbst zu: Mädchen schätzen ihre Fähigkeiten durchschnittlich schlechter ein als sie tatsächlich sind, während Jungen eher dazu neigen, sich selbst zu überschätzen. Es mangelt also meist nicht an den Fähigkeiten, sondern an einem vorurteilsfreien Selbstbild der jungen Frauen, wenn sie sich bereits in der Schule gegen MINT-Fächer und für vermeintlich »einfachere Fächer« wie Kunst oder Sprachen entscheiden. »Eltern sollten ihren Töchtern hier mehr zutrauen und sie in ihrem Selbstwertgefühl bestärken«, erklärt Hannelore Faulstich-Wieland. »Denn schließlich können sie es auch.« Doch eine möglichst geschlechtsneutrale Erziehung frei von gängigen Klischees ist in der Realität nur schwer umzusetzen. »Ein Kind unabhängig vom Geschlecht so zu erziehen, dass es alle Möglichkeiten hat, ist nur begrenzt realisierbar, denn die Eltern haben das natürlich nicht alleine in der Hand«, sagt die Erziehungswissenschaftlerin weiter. »Erziehung wird von vielen alltäglichen Begegnungen beeinflusst, durch das Fernsehen, auf der Straße, in der Schule, deswegen funktioniert eine völlig geschlechtsneutrale Erziehung nicht.« Die Schule – besonders die Grundschule – spiele in der Stärkung der persönlichen Interessen von Kindern eine enorm große Rolle. Hier fehle es jedoch häufig an technischen Bezügen. »Wir haben in den Grundschulen einen hohen Anteil an weiblichen Lehrkräften, die sich bewusst für diesen Beruf und gegen etwas Technisches entschieden haben. Daher entsprechen technische Unterrichtsinhalte auch weniger den eigenen Interessen und werden deshalb weniger vermittelt.« Auch Ulrike Struwe empfielt: »Wir müssen entlang der gesamten Bildungskette tätig werden, über Kita und Kindergarten bis in die Grundschule hinein. Besonders wichtig ist auch die Phase der Pubertät, in der es einen großen Schub in der Identitätsentwicklung gibt. Der relevanteste Punkt ist dann die konkrete Entscheidungsphase während des Schulabschlusses, die mit in den Blick genommen werden muss.«
»Es gibt keinen natürlichen Zusammenhang zwischen Beruf und Geschlecht.« Prof. Dr. Hannelore Faulstich-Wieland, Erziehungswissenschaftlerin
Bei der Berufsorientierung, die mittlerweile bundesweit Teil des Unterrichts in den höheren Jahrgangsstufen ist, sei es besonders wichtig, ein breites Spektrum an beruflichen Optionen für alle Schülerinnen und Schüler bereitzustellen. »Oft werden nur einzelne Berufe herausgegriffen«, erklärt Hannelore Faulstich-Wieland. »Es muss vermittelt werden, dass es keine klassischen Männer- oder Frauenjobs gibt. In der Vergangenheit gab es eine ganze Reihe von Berufen, die einen Geschlechtswechsel vollzogen haben. Daran erkennt man, dass Vielfalt möglich ist.« Initiativen wie der Girl'sDay sind in Deutschland bereits seit Jahren etabliert, um Mädchen an die vermeintlich männlichen Berufe heranzuführen und somit mehr Women-Power in die MINT-Bereiche zu bekommen. Die Palette an Angeboten für junge Frauen wird größer. Das »Niedersachsen Technikum« ist ein Projekt der Hochschule Osnabrück, das Abiturientinnen in Zusammenarbeit mit verschiedenen Unternehmen Einblicke in den Arbeitsalltag und das Studium in verschiedenen MINT-Bereichen geben soll. Die Teilnehmerinnen absolvieren ein sechsmonatiges bezahltes Praktikum in einem Unternehmen und haben zudem die Möglichkeit, einen Tag pro Woche an einem Schnupperstudium teilzunehmen. Mit einem Anteil von etwa 90 Prozent der Teilnehmerinnen, die sich laut der Initiative anschließend für ein MINT-Studium oder eine MINT-Ausbildung entscheiden, ist das »Niedersachsen Technikum« ein voller Erfolg. Solche praxisorientierten Ansätze sind wichtig, um langfristig eine klischeefreie Berufsorientierung und eine geschlechterunabhängige Entwicklung von Interessen zu erreichen. Dafür muss außerdem weiterhin aktiv an der Sichtbarkeit von Frauen als Vorbilder im MINT-Bereich gearbeitet werden.
Unsichtbare Fabelwesen
Albert Einstein, Thomas Edison, Galileo Galilei und wie sie alle heißen, die Männer, die zündende Ideen hatten und mit ihrer Forschung und ihrem Erfindergeist die moderne Welt mitgestaltet haben. Noch heute füllen ihre Entdeckungen Schulbücher. Bedeutende Straßen und wissenschaftliche Auszeichnungen tragen ihre Namen. Und was haben die Frauen gemacht, während all diese weltverändernden Erkenntnisse und Erfindungen geschaffen wurden? Haushalt und Kinder, klar, doch ganz nebenbei hat Marie Curie die Radioaktivität entdeckt, Rosalind Franklin die Theorie zur DNA-Struktur bestätigt und Margaret Hamilton den Computercode entwickelt, der die erste Mondlandung möglich machte. Von wegen rosa Baukasten mit Feenstaub! Denn es gibt sie, die Frauen in der Wissenschaft, und es gab sie schon in der Vergangenheit, auch wenn sie uns noch heute ein wenig vorkommen wie Fabelwesen, die man nur selten zu Gesicht bekommt. Hätte man Rosalind Franklin oder Margaret Hamilton in Männerklamotten stecken müssen, um ihre Erfolge sichtbar zu machen? Denn den Einzug in unsere Geschichtsbücher haben die Wissenschaftlerinnen der Vergangenheit verpasst, und somit auch die Chance, Mädchen und Frauen zu inspirieren und ihnen ein Vorbild zu sein. »Jungen Frauen, die sich für Technik interessieren, fehlt es an Identifikationsmöglichkeiten in der Gesellschaft. Sie fühlen sich oft, als würden sie gegen den Strom schwimmen,« erklärt Ulrike Struwe. Das sei auch der Grund, warum die Entscheidung für ein MINT-Studium für Mädchen oft schwieriger sei, vor allem in den nach wie vor sehr männerdominierten Bereichen wie der Elektrotechnik oder der Informatik. In vielen Fällen lässt sich beobachten, dass technikinteressierte Mädchen sich an ihrem Vater als Vorbild orientieren. Bei Julia Stehle, Produktionsingenieurin bei der GKN Aerospace Deutschland GmbH, entstand das technische Interesse durch die Lektüre der VDI Nachrichten, die ihr Vater als Maschinenbauer regelmäßig Zuhause las. »Ich war schon sehr früh technikbegeistert. Durch meinen Vater hatte ich dann auch schon früh Berührung mit Technik. So wurde mein Interesse daran größer«, erklärt die 29-Jährige. »Meine Entscheidung für den Studiengang Kunststofftechnik war deshalb auch keine große Überraschung für meine Eltern. Sie haben mich sehr in meiner Entscheidung bestärkt.« Da dieser Rückhalt durch die Eltern bei der Berufswahl nicht immer vorhanden ist, ist es umso wichtiger, weibliche Vorbilder aus dem MINT-Bereich in der Gesellschaft sichtbar zu machen. Denn es gibt sie: Wissenschaftlerinnen wie Dr. Mai Thi Nguyen-Kim, die mit ihrem Youtube-Kanal »maiLab« vor allem eine junge Zielgruppe anspricht und zeigt, dass Naturwissenschaften keineswegs nur etwas für Männer sind. Solche Role Models helfen dabei, gesellschaftliche Stereotype aufzubrechen. Doch der Blick in deutsche Hörsäle zeigt: Es gibt noch Luft nach oben.
1.096.733 Studierende waren 2019 in MINT-Fächern eingeschrieben. Nur knapp ein Drittel waren Frauen. Seit 1973 ist der Anteil an Promotionen, die von Frauen eingereicht wurden, von 4,6 Prozent auf 33,5 Prozent gestiegen.
Blick ins Studium
Nach dem Abitur entscheiden sich immer mehr junge Menschen für ein Studium und somit wächst auch die Zahl an MINT-Studentinnen. Die Gesamtzahl an Frauen in MINT-Fächern ist in den vergangenen 45 Jahren von 57.850 auf 344.474 deutlich gestiegen. An den Geschlechterverhältnissen hat das nur wenig verändert: Mehr als zwei Drittel der Studierenden sind immer noch Männer. Seit 1975 ist der Anteil an Frauen im MINT-Studium lediglich von 19,4 auf heute 31,4 Prozent angestiegen. Bei knapp unter 30 Prozent stagniert seit über 15 Jahren der Frauenanteil unter den Bachelorabsolvent*innen im MINT-Bereich. Während es in der Mathematik und den Naturwissenschaften etwas ausgeglichener ist, sind vor allem die Ingenieurwissenschaften immer noch Männerdomäne. In der Elektrotechnik und der Informationstechnik sind unter den Absolvent*innen sogar nur 11,6 Prozent Frauen. Um mehr Studentinnen in MINT-Studiengänge zu bekommen, sei es vor allem wichtig, gut zu vermitteln, was die Tätigkeit nach dem Studium wirklich umfasse, erklärt Ursula Köhler am Beispiel der Informatik. »Das gesellschaftliche Bild der Informatik entspricht nicht der wirklichen Arbeitswelt. Wir müssen Frauen vermitteln, wie die Arbeit nach dem Studium tatsächlich aussieht. Der Informatik haftet immer noch das Bild des Nerds an, der mit keinem Menschen redet. Dabei ist die Kommunikation ein ganz wichtiger Bestandteil der Arbeit in der Informatik. Wenn das mehr in den Köpfen verankert werden könnte, würden sich sicher mehr Frauen dafür begeistern lassen, denn Kommunikation und Zusammenarbeit mit Menschen ist vor allem für Frauen oft ein wichtiges Kriterium bei der Berufswahl.« Laut Ulrike Struwe sei es zudem wichtig, dass Hochschulen und Universitäten die Inhalte und Möglichkeiten ihrer Studiengänge konkret vermitteln. »Frauen fühlen sich oft stärker angesprochen, wenn der Zweck der Tätigkeit klar ist. Studienfächer wie Bioinformatik, Medizintechnik oder Textilingenieurwesen vermitteln Inhalte schon über ihre Bezeichnungen. In diesen Fächern sind meist deutlich mehr Frauen zu finden.«
Der geringe Frauenanteil in MINT-Studiengängen hat nicht nur Auswirkungen auf das Geschlechterverhältnis in der Arbeitswelt, sondern auch auf den Alltag der Studentinnen an den Hochschulen und Universitäten. »Wir sehen Fortschritte, doch Frauen sind immer noch unterrepräsentiert. Sie sind sozusagen Exotinnen in diesen Studiengängen und das ist kein schöner Status«, erklärt Ulrike Struwe. »Auch das Angebot für Frauen, sich in einem MINT-Studium zu vernetzen, ist immer noch deutlich geringer als bei Männern. Es gibt einfach weniger Gleichgesinnte und Gesprächspartnerinnen. Erst ab einem Anteil von etwa 30 bis 40 Prozent beginnt das Geschlecht eine untergeordnete Rolle zu spielen, und da müssen wir eigentlich hinkommen.« Um Frauen im MINT-Studium ein besseres Netzwerk zu bieten, gibt es bereits verschiedene Initiativen und Programme, wie beispielsweise das Bayern Mentoring. Das bayerische Förderprogramm unterstützt und begleitet junge Frauen in ihrem Studium und beim Einstieg in die Arbeitswelt. Dafür werden sowohl Studienanfängerinnen als auch Studentinnen, die kurz vor dem Abschluss stehen, mit Mentorinnen aus der Wirtschaft zusammengebracht, die sie beraten und ihnen so den Einstieg in die Arbeitswelt erleichtern sollen. Im Studium dem unterrepräsentierten Geschlecht anzugehören, ist auch Julia Stehle bestens bekannt. Die Ingenieurin studierte sowohl im Bachelor als auch im Master Kunststofftechnik, ein sehr männerdominiertes Fach. »Im Bachelor waren wir nur zwei Frauen von 30 Studierenden, im Master waren es dann immerhin fünf«, erklärt sie. Jedoch empfand sie diesen Status nie als Nachteil. »Nach meinem Abitur in einer fast reinen Mädchenklasse fand ich es angenehm, nicht nur Frauen um mich zu haben. Natürlich erhält man etwas mehr Aufmerksamkeit, doch in der Regel war das für mich eher positiv als negativ. Zum Beispiel konnten sich die Professor*innen die Namen von den Studentinnen besser merken als von den Studenten.«
Das Beratungs- und IT-Dienstleistungsunternehmen adesso bietet im Rahmen der Initiative »She for IT« Stipendien speziell für Frauen an der privaten Hochschule XU Exponential University in Potsdam an. Den Stipendiatinnen werden hier neben ihrem Bachelorstudiengang »Coding and Software Engineering« erfahrene Mentorinnen aus dem Unternehmen zur Seite gestellt. Stipendiatin Dilem Kaya schätzt vor allem das Netzwerk, das ihr durch »She for IT« zugänglich gemacht wird. »In meinem vorherigen Informatik-Studium habe ich mich als Frau oft unterrepräsentiert gefühlt«, erklärt die Studentin. »Durch das Stipendium erhalte ich sowohl von den Professor*innen an der Hochschule als auch von meiner Mentorin volle Unterstützung und das Empowerment, dass ich auch als Frau in der IT erfolgreich durchstarten kann.« Das Stipendium an der XU Exponential University ist nur eines von zahlreichen Projekten der »She for IT« Initiative, mit deren Hilfe adesso weibliche Talente fördern und den Anteil an IT-Expertinnen im Unternehmen von aktuell 16 Prozent deutlich erhöhen möchte.
IT's a man's world
In der Arbeitswelt stellt sich die Differenz der Geschlechter noch einmal deutlicher dar als in den Hörsälen: Frauen machten im MINT-Bereich im Jahr 2020 gerade mal 16 Prozent der Arbeitskräfte aus. Woran liegt das? Hat die Ingenieurin Sophie in der Berufswelt weniger Chancen als ihr männliches Alter Ego Jonas? »Es ist erforscht, dass Menschen unterbewusst lieber Mitarbeiter*innen einstellen, die ihnen selbst ähnlich sind. Und wenn da eben nur Männer sind, werden auch erst mal weiterhin mehr Männer eingestellt«, erklärt Ursula Köhler. Jedoch zeige sich hier aktuell ein Wandel. »Momentan entsteht ein großes Bewusstsein für die Vorteile gemischter Teams. Es gibt zahlreiche Studien, die belegen, dass die Produktivität in diversen Teams steigt. Das beeinflusst natürlich auch die Entscheidungen der Vorgesetzten. Immer mehr Unternehmen suchen bewusst nach Frauen und versuchen auch ihre Stellenanzeigen auf Frauen auszurichten.« Eine internationale Studie der Online-Jobplattform Stepstone zeigt deutlich, dass Unternehmen enorme Schwierigkeiten haben, mit ihren Stellenangeboten Frauen zu erreichen: Mehr als 90 Prozent der Bewerbungen auf eine ausgeschriebene Ingenieur-Stelle kamen von Männern. In der Elektrik waren es sogar 99 Prozent.
Doch auch innerhalb des Arbeitsalltags in MINT-Berufen gibt es Faktoren, die nach wie vor dazu beitragen, dass Frauen unterrepräsentiert sind. Die oft männlich dominierte Arbeitskultur sei laut Ursula Köhler häufig ein Punkt, der Frauen zum Wechsel in einen anderen Bereich veranlasse. Doch Beispiele aus den Erfahrungen erfolgreicher MINT-Frauen zeigen, dass es auch anders gehen kann. Nantje Grieser ist Microsoft 365 Adoption & Collaboration Lead bei Enercon, einem Hersteller von Windenergieanlangen, und bereits seit 13 Jahren in der IT tätig. »Sicher muss man auch ein wenig der Typ dafür sein, in einem männlichen Umfeld zu arbeiten. Man sollte ein gewisses Selbstbewusstsein mitbringen«, erklärt sie. »Aber wenn man souverän auftritt und von sich und seinen Fähigkeiten überzeugt ist, dann hat man auch keine Probleme, sich in einem männerdominierten Bereich durchzusetzen.« Dass sie dieses Prinzip erfolgreich umgesetzt hat, zeigt sich in ihrer Position als Teamleiterin eines überwiegend männlichen Teams. »Bei manchen männlichen Kollegen hat man schon das Gefühl, sich erst mal beweisen zu müssen«, erinnert sich die Produktionsingenieurin Julia Stehle an ihren Berufseinstieg zurück. »Aber sobald man gezeigt hat, was man kann, spielt es eigentlich keine Rolle mehr, welches Geschlecht man hat.«
Klettert man auf der MINT-Karriereleiter weiter nach oben, fällt auf, dass die ohnehin schon geringe Zahl an Frauen nochmal weiter abnimmt. »Viele Frauen denken, sie seien gleichberechtigt, bis es um das Thema Familienplanung geht«, bemerkt Ursula Köhler. »Dann merken sie, dass es leider oft nicht so ist. In diesem Moment scheiden sie aus dem harten Konkurrenzkampf, was Positionen und Gehalt angeht, aus. Da müssen Frauen aktiv dagegen vorgehen.« Wichtig sei vor allem, dass Frauen von sich aus mehr einfordern und sich auf ihre Fähigkeiten berufen. »Eine Mentorin oder einen Mentor innerhalb des Unternehmens zu finden, der einen aktiv fördern kann, ist für viele Frauen sehr hilfreich«, erklärt Nantje Grieser. Viele Arbeitgeber etablieren Programme, die speziell Frauen fördern und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern sollen, um das Ungleichgewicht vor allem in den höheren Karrierestufen auszugleichen. Auch in der Lehre an deutschen Hochschulen und Universitäten zeigt sich ein ähnliches Bild. »Unter den Promovierenden im MINT-Bereich sind noch relativ viele Frauen, bei der Habilitation werden es schon weniger und bei den Professuren dann noch mal weniger«, erklärt Ursula Köhler. »Aber es gibt eine ganze Reihe von Programmen, die speziell Frauen fördern und da tut sich auch was.« Das Professorinnenprogramm des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) beispielsweise bietet finanzielle Unterstützung für Hochschulen, die überzeugende Gleichstellungskonzepte vorlegen. Außerdem werden Programme für Nachwuchswissenschaftlerinnen und Fortbildungen für gendergerechte Berufungsverfahren durch das BMBF gefördert.
»Langsam entsteht ein Bewusstsein für die Vorteile von Diversity innerhalb eines Teams.« Dr. Ursula Köhler, Sprecherin der Fachgruppe Frauen und Informatik
Wie sieht die Zukunft aus?
Förderprogramme und Initiativen, sowohl von Unternehmen als auch von der Politik, sind auf den Weg gebracht und erste Erfolge lassen sich erkennen. Sind die Weichen für Chancengleichheit und Gendergerechtigkeit im MINTBereich nun endgültig gestellt? »Das ist natürlich ein Blick in die Glaskugel. Das Thema Frauen und MINT beinhaltet einen gesellschaftlichen Wandel, und ein solcher Wandel benötigt in der Regel sehr viel Zeit«, sagt Ulrike Struwe. »Wichtig ist, dass Projekte weiterhin gefördert werden, die dazu beitragen, dass sich etwas ändert. Diese Projekte bieten wichtige Anlaufstellen für Frauen, aber auch für Unternehmen, die an dem Wandel mitwirken wollen. Langfristig ist natürlich das Ziel, dass alle Geschlechter alles machen können und ihren Beruf frei nach Eignung und persönlichen Neigungen wählen können.« Obwohl das Ungleichgewicht der Geschlechter in der MINT-Welt nach wie vor deutlich zu spüren ist, zeichnet sich dennoch ein Wandel ab. Frauen wie Nantje Grieser, Julia Stehle und Dilem Kaya zeigen, dass MINT keineswegs mehr eine reine Männerdomäne ist, in der man als Frau keine Aussicht auf Erfolg hat. Auch die Denkweise in Unternehmen verändert sich, es entsteht ein Bewusstsein für die Vorteile gemischter Teams und Frauen werden explizit gesucht und gefördert. Schließlich wird MINT-Absolventinnen auch einiges geboten: Es warten meist sehr gute Arbeitsbedingungen, ein hohes Einkommen und nicht zuletzt ein vielfältiger, spannender Aufgabenbereich. »Ich habe mich für ein Studium im Bereich IT entschieden, weil ich die Zukunft mitgestalten und etwas verändern möchte«, erklärt die adesso-Stipendiatin Dilem Kaya. »Technologien wie Künstliche Intelligenz werden unsere Zukunft sein und Frauen sollten an der Entwicklung dieser Technologie genauso teilhaben wie Männer.« Auch die Anforderungen und Aufgaben in MINT-Berufen entsprechen schon lange nicht mehr den gängigen Klischees. »Es werden zunehmend Kreativität und Kommunikationsstärke in der Informatik gefragt«, erklärt Nantje Grieser. »Hier können Frauen oft besonders punkten und ihren Wunsch, mit Menschen zu interagieren, mit ihrem technischen Wissen verbinden.«
Es lohnt sich also, einen genaueren Blick auf die Studiengangs- und Stellenangebote zu werfen und frei von gängigen Vorurteilen gegenüber bestimmten Berufsbildern auf Jobsuche zu gehen. Denn echte Technik ist auch was für Frauen. Es mangelt ihnen weder an Skills noch an Erfinderinnengeist. Was bisher noch fehlt, ist eine wirklich klischeefreie und geschlechterunabhängige Berufswahl für junge Frauen und weibliche Vorbilder, die in der Gesellschaft sichtbar sind. Und dazu gehört auch, dass Sophie sich nicht als Jonas verkleiden muss, um mit Bagger und Werkzeugkasten spielen zu dürfen.