Forschung und Wissenschaft sind maßgeblich für Weiterentwicklungen in jeglichen Bereichen – auch länderintern. In unserer Vorstellung sollten so die klügsten Köpfe unseres Landes die Möglichkeit haben, ihr Wissen nutzen und im Rahmen der Forschung umsetzen zu können – und das selbstverständlich geschlechterunabhängig. Aber ist das tatsächlich so selbstverständlich? Laut dem Statistischen Bundesamt lag der Anteil von Frauen in der Forschung und Entwicklung in Deutschland lediglich bei 28 Prozent (Stand 2019), fünf Prozent unter dem EU-Durchschnitt. Was ist der Grund dafür, dass gerade in Deutschland die Frauenquote so niedrig ist?
Alles befristet
Um die Situation, in der sich Frauen in der Wissenschaft befinden, besser zu verstehen, müssen wir zunächst die Arbeitsbedingungen von Wissenschaftlerinnen und auch Wissenschaftlern in Deutschland betrachten. Diese sind maßgeblich vom sogenannten Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) geprägt. Seit 2007 regeln diese Verordnungen die Arbeitsverträge für wissenschaftliches und künstlerisches Personal an Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Im Gegensatz zum allgemeinen Arbeitsrecht sieht die wissenschaftliche Arbeitswelt eine spezielle Regelung für Befristungen vor. Personal mit akademischer Ausbildung erhält in der Regel einen auf sechs Jahre befristeten Beschäftigungsvertrag. Nach der Promotion ist eine erneute Befristung von weiteren sechs Jahren möglich. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung rechtfertigt die zeitliche Begrenzung der Arbeitsverträge wie folgt: »Insbesondere in der Phase der Qualifizierung junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind befristete Arbeitsverhältnisse sinnvoll und notwendig. Insbesondere wäre ohne eine durch Befristungen begünstigte Rotation für nachrückende Generationen der Zugang zu wissenschaftlichen Tätigkeiten erheblich erschwert.«
2016 gab es eine Änderung im WissZeitVG, um unsachgemäße Kurzbefristungen zu vermeiden. Die Dauer der Befristung muss nun an dem gesetzten wissenschaftlichen Qualifizierungsziel angepasst sein, dazu gehören unter anderem Promotion oder Habilitation.
Gleichberechtigung? Von wegen
Seit 2015 will die UNESCO mit dem internationalen Tag der Frauen und Mädchen in der Wissenschaft auf deren Rolle in Wissenschaft und Technologie aufmerksam machen. Jedes Jahr am 11. Februar soll somit gezeigt werden, wie viel Forschungspotenzial verloren geht, da zu wenige Wissenschaftlerinnen in der Forschung bleiben. Doch warum gibt es in Deutschland immer noch vermehrt das Phänomen der sogenannten »Leaky Pipeline«?
Dr. Pauline Fleischmann, Neuroethologin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Verhaltensphysiologie und Soziobiologie der Universität Würzburg nannte in der Zeitschrift »Forschung & Lehre« eine weitere große Problematik für Frauen in der Wissenschaft. So verschiebe sich laut Fleischmann das Geschlechter-Verhältnis zum Nachteil der Frauen, je höher diese die Karriereleiter aufsteigen. Auch Dr. Alena Sander äußerte sich in genannter Zeitschrift. Sie erwarb ihre Promotion im Jahr 2021 in Politikwissenschaften und ist Mutter von zwei Kindern. Für Sander ist bereits die Zeit nach der Promotion als Wissenschaftlerin und Mutter sehr hart. Um Post-Doc-Positionen zu erwerben, müsse man möglichst viele Publikationen in hochgerankten Wissenschaftsjournalen veröffentlichen, internationale Mobilität aufweisen, an Konferenzen teilnehmen und vieles mehr. Dies sei, so Sander, mit sehr viel Zeitaufwand und mentaler Verfügbarkeit verbunden, was als Mutter kaum vereinbar sei. Die systematische Diskriminierung von Frauen und Müttern in der Wissenschaft, sowie die teils unmöglich umsetzbaren Anforderungen in Verbindung mit Kindern, führt zu einem vermehrten Abbruch der Karriere von Wissenschaftlerinnen. Dies bestätigt auch die GESIS-Statistik des Leibniz-Instituts für Sozialwissenschaften: »Kompetenzzentrum Frauen in Wissenschaft und Forschung«. Diese untersuchte Frauen- und Männeranteile im Qualifikationsverlauf sowie die idealtypischer Karriereverläufe vom Studienbeginn (2001) bis zur Berufung (2018- 2020). Laut Statistik war der Anteil an Frauen und Männern bei Studienanfang und Studienabschluss etwa gleich verteilt. Beim Übergang zur Promotion sank der Frauenanteil auf 44,8 Prozent. Auch im nächsten Karriereschritt, der Habilitation, verblieben lediglich 30,9 Prozent in der Wissenschaft.
Ein weiteres Problem beschreibt der sogenannte Matilda- Effekt. Unter diesem versteht sich die systematische Diskriminierung von Frauen in der Wissenschaft. Die Ergebnisse und Erfolge von Wissenschaftlerinnen werden verdrängt, geleugnet oder den männlichen Kollegen zugeschrieben. Ein bekanntes Beispiel dafür: der Fall Lise Meitner. Die österreichische Kernphysikerin forschte jahrelang mit ihrem Neffen und erklärte erstmals die Theorie der Kernspaltung. Im Jahr 1944 erhielt nur ihr Kollege Otto Hahn alleine den Nobelpreis für eine der größten Entdeckungen des 20. Jahrhunderts. 1993 wurde der Matilda-Effekt erstmals diskutiert, angestoßen von der Wissenschaftshistorikerin Margaret W. Rossiter. Sie wählte den Namen zu Ehren der Soziologin, Aktivistin und Autorin Matilda Joslyn Gage, die als Vorreiterin im Kampf für die Gleichberechtigung der Frau gilt.
Wissenschaft, Ja! Kinder, Nein!
Fakt ist also, dass Frauen in der Wissenschaft immer noch benachteiligt werden. Großer Aspekt dabei: das Eltern-Sein. Die Familiengründungsphase fällt meist in die Zeit der wissenschaftlichen Qualifizierung, was somit ebenfalls zur beschriebenen »Leaky Pipeline« beiträgt. Noch problematischer ist die Situation für alleinerziehende Forscher oder Forscherinnen. Pauline Fleischmann beschreibt die Problematik als Mutter und Wissenschaftlerin wie folgt: »Das Bestreben vollumfänglich am Wissenschaftssystem teilzuhaben, auch wenn Veranstaltungen zu familienunfreundlichen Zeiten am Abend oder Wochenende stattfinden, oder Reisen an weit entfernte Orte nötig sind, sei es zu Konferenzen oder Forschungsaufenthalten versus den Wunsch für das eigene Kind da zu sein und alle Entwicklungsschritte zu begleiten.« Ohne Unterstützung oder kreative Lösung sei eine Vereinbarung von beidem kaum möglich. Politik und Arbeitgeber wollen Eltern aus der Wissenschaft unterstützen. Das WissZeitVG kommt diesen dabei sogar entgegen, da sich die Sechsjahresfrist nach Promotion pro Kind um zwei Jahre verlängert. Zusätzlich können die befristeten Arbeitsverträge für die Dauer des gesetzlichen Mutterschutzes und der Elternzeit verlängert werden. Wichtig dabei ist allerdings die Art des wissenschaftlichen Projekts – denn nicht jedes Forschungsprogramm lässt sich pausieren. Auch in den Chefetagen von Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen ändert sich langsam etwas. So enthalten Arbeitsverträge oft flexible Arbeitszeitmodelle und Einrichtungen bieten Betreuungsmöglichkeiten sowie Notfallbetreuung für Kinder an.
Homeoffice-Regelungen oder Abmachungen mit Kollegen und Kolleginnen helfen, den Spagat zwischen Familie und Forschung zu schaffen. Pauline Fleischmann hat bereits Erfahrungen mit ungewöhnlichen Wegen in ihrer wissenschaftlichen Karriere als Mutter gemacht. So begleiteten Mann und Sohn sie beispielsweise schon zweimal bei mehrmonatigen Feldexperimenten. Finanzielle Unterstützung kann dabei durch Bezuschussung oder Elterngeld beantragt werden.
#IchBinHanna
Das oben erwähnte WissZeitVG stößt bei dem Großteil der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen auf Unmut. Viele empfinden die ständig befristeten Arbeitsverträge nicht als positiven Rotationsaspekt, sondern als unsichere, zermürbende Arbeitsbedingung.
Der ständige Stress um die Verlängerung des Vertrags oder die Konkurrenz unter Kollegen und Kolleginnen wirkt sich negativ auf die eigentliche Forschungsarbeit aus. Nun wehren sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Deutschlands unter dem Hashtag #IchBinHanna. Nachdem das Forschungsministerium im vergangenen Jahr ein Video veröffentlichte, in dem sie anhand der fiktiven Biologin Hanna für die Vorteile des WissZeitVG warben, reagierten die Autoren Amrei Bahr, Kristin Eichhorn und Sebastian Kubon mit #IchBinHanna. Der Hashtag sorgte innerhalb kürzester Zeit für Reaktionen von mehr als 134.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Viele berichteten von den Auswirkungen des Arbeitens ohne soziale Absicherung, von Überlastung und Depressionen. Im März 2022 veröffentlichten die genannten Autoren ein Buch über die Problematik – »#IchBinHanna: Prekäre Wissenschaft in Deutschland«.
Autorin Kristin Eichhorn beschrieb bei NDR-Kultur die Pro-blematik für ausländische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, da diese zum Beispiel keinen Aufenthaltsstatus bekämen oder dieser abhängig von der Länge des Vertrags sei. Die Hashtag-Initiative sorgte dafür, dass die Angelegenheit in den Koalitionsvertrag der neuen Regierung aufgenommen wurde. Ebenfalls finden aktuell zahlreiche Diskussionen statt, denn: Je höher die Reichweite der Thematik, desto eher kann etwas verändert werden.